Leseprobe

Hier finden Sie den einführenden Text in mein Buch:

Der Partybungalow – Als Baugutachter durch den Osten

 

Vorwort: Rückkehr in ein nahes Land

Jeder Mensch versucht doch dann und wann, sein Leben zu planen. Doch würde das Leben nur nach diesem Plan verlaufen, wäre das Leben vielleicht etwas langweilig und der Mensch unzufrieden. In Wahrheit hängen ja die meisten großen Veränderungen in unseren Leben eher von Zufällen, unerwarteten politischen Ereignissen und Naturkatastrophen oder Ähnlichem ab. Wer dabei zur rechten Zeit am rechten Ort ist, dessen Leben kann unter Umständen eine höchst interessante Wende nehmen. Derlei Veränderungen sind mir mehrfach passiert, und sie haben mein Leben auf eine Weise verändert, von der ich gern berichten möchte.

1941 wurde ich im Krieg als Sohn einer Berliner Mutter und eines schlesischen Vaters geboren und wuchs in einem Vorort des zerstörten Dresdens auf. Was lag inmitten all dieser Ruinen näher als ein Bauberuf? Ich entschied mich für eine Ausbildung zum Maurer. Da meine Familie mittlerweile in Kleinmachnow, unmittelbar südlich von Berlin gelegen, lebte, schloss ich meine Lehre 1959 am Bauhof Potsdam ab.

Die Arbeit machte mir Spaß, doch weiterlernen wollte ich auch. Mein Betrieb dachte nicht daran, mich zu „delegieren“, also zum Studium an einer Hochschule in der DDR zu empfehlen. Die Gründe dafür erfuhr ich nie, aber wozu lange grübeln: In Westberlin war Studieren keine Frage von Bekenntnissen, Herkunft oder Verbindungen. Ich legte meine Zeugnisse vor und bekam einen Platz in der Techniker-Abendschule. Die meisten Studenten kamen ebenso wie ich aus der DDR oder Ost-Berlin. Bücher, Lehrunterlagen und Arbeitshefte nahm ich selten mit nach Hause. Sie blieben in der Bibliothek, weil die DDR-Zöllner in Dreilinden am Übergang von Westberlin nach Brandenburg gerne die Pendler filzten. Mein Baubetrieb sollte besser nicht wissen, dass ich abends Kurse im Westen besuchte und am Wochenende über den Büchern hockte. Tagsüber arbeitete ich in meinem Wohnort Kleinmachnow als Maurer in einem Privatbetrieb mit fünf Mann. Hier stand ich nicht unter Beobachtung durch den Staat, und der Chef hielt seine Hand über mich. Spezialität des Betriebs war die Herstellung und Reparatur von Jauchegruben, und da alle Gruben mit der Hand geschachtet wurden, erwarb ich so einiges Spezialwissen über Kanalisation, Gruben und Baugrund.

Im Juni 1960 rückten alle Baubrigaden im Umland aus, um Garagen für Schützenpanzer zu mauern. Wir fanden den Auftrag ungewöhnlich, aber dachten uns nichts weiter dabei. Dass es sich um Vorbereitungen für die Absperrung von Westberlin handeln könnte, kam uns nicht in den Sinn. Erstaunt und verärgert waren mein Bruder und ich, dass unsere seit langem für den August 1961 geplante Moskau-Reise platzte. Die Reise war bereits bezahlt, alles schien geregelt, da erhielten wir im April ein Schreiben mit dem denkwürdigen Satz: „Für Sie findet diese Reise nicht statt.“ „Wenn nicht Moskau, dann halt Paris!“ war unsere trotzige und etwas kühne Reaktion. Anfang August 1961 machten wir uns auf den Weg ins gelobte Land Frankreich, doch im eher teuren statt sündhaften Paris wären wir möglicherweise verhungert. Auf dem Rückweg mit Station in Luxemburg am 13. August 1961 titelte dort die Bild-Zeitung mit der Abriegelung Westberlins und dem Bau der Mauer. „Das ist Quatsch“ sagte mein Bruder und kaufte am Kiosk sämtliche deutschsprachigen Zeitungen: Sie berichteten alle dasselbe.

 

Vater Tochter Enkel

Vater Tochter Enkel

In der Bundesrepublik waren wir fremd, also kehrten wir, wenn schon nicht in die DDR, so doch zurück nach Westberlin, um unser Abendschulstudium zu beenden.

Zuerst brauchten wir ein Dach über dem Kopf. Das Aufnahmelager für DDR-Flüchtlinge in Marienfelde war hoffnungslos überfüllt. Drei Nächte blieben wir in der Jugendherberge Neu-Westend, bis eine Freundin der Familie eine Bleibe organisierte. Es war ein Heim für schwer erziehbare Kinder und Jugendliche in der Lindenthaler Allee. Der Direktor war nicht wirklich begeistert von seinem Logierbesuch im Alter von 20 und 22 Jahren, doch währte seine Geduld mit uns ganze neun Monate. Er war ein strenger, aber gerechter und respektierter Mann inmitten eines nicht unkomplizierten Schwarms 14 bis 17 Jahre alter Jungen.

Unser ungekrönter König hieß Drafi Deutscher. Er war im Heim bereits ein singender und Gitarre spielender Stern, an dem wir alle wie ein Kometenschweif hingen, sein späterer Aufstieg zum Star mit „Marmor, Stein und Eisen bricht“ erstaunte uns darum nicht. Mich störten damals allerdings seine entfesselten Rock’n Roll-Darbietungen, wenn ich für die Abendschule büffeln musste. Als kräftiger Maurer wusste ich mir Ruhe zu verschaffen. Für Unruhe und Aufmerksamkeit sorgte ich selbst, wenn die Striche auf den Feierabend-Bierdeckeln verschwammen und meine Körperstatik dahingegangen war. In diesem Zustand war ich der Held im Heim, zwar damals mit unter 21 Jahren noch nicht volljährig, aber ein Mann und echter Bauarbeiter eben.

Eine Arbeit zu finden, war nicht schwer.

Eine Arbeit zu finden, war nicht schwer.

Eine Arbeit zu finden war seinerzeit leicht. Von einem Tag auf den anderen gelangten zehntausende Berufspendler von der DDR nicht mehr nach Westberlin. Maurer standen hoch im Kurs, in den Baugruben und auf den Gerüsten musste es weitergehen. Kaum in der Lindenthaler Allee untergekommen, fand ich Beschäftigung in einem kleinen Betrieb, der mich im nahen Düppel auf Montage schickte. Der Ort war eigenartig. In Sichtweite zu meiner letzten Baustelle in Kleinmachnow, jetzt direkt am Grenzzaun gelegen, zog ich neue Häuser hoch. Das Land jenseits des Stacheldrahts war unerreichbar geworden. In ihm lebten Familie, Freunde und Kollegen. Alles erschien unwirklich.

Weniger seltsam empfand ich das große Missverhältnis zwischen meinem Beruf und der eigenen Wohnsituation. Auf der Suche nach einer Bleibe verbrachten mein Bruder und ich mehrere Wochen in einer Kleingartenkolonie. Die Berliner Lauben ersetzten damals nicht nur unbezahlbare Urlaubsreisen, sondern auch den Mangel an Wohnraum. Dann brachte uns der Untermietvertrag für zwei Personen für ein 12 m² großes Altbauzimmer dicht an die Schwelle zu ordentlichen statt bloß geduldeten Bewohnern. Allerdings bezog ich erst 1966 eine kleine Wohnung ohne weitere Mitmieter und ohne Zimmer-, Flur- und Badgenossen. Dass bald Wohngemeinschaften (WGs) in Mode kommen würden, wäre mir in meiner damaligen Situation nie in den Sinn gekommen.

Die eigenen vier Wände waren wie der Abschluss einer Lebensphase, bei der Arbeiten und Lernen, Beruf und Studium gleichzeitig passierten. 1963, nach vier Jahren Abendschule, hatte ich die Bautechniker-Prüfung bestanden und wurde sogleich als Bauleiter in einem Architekturbüro eingestellt. Kaum hatte ich dort begonnen, hieß es: „Ein Bautechniker kann auch entwerfen“. Kurze Zeit später verantwortete ich Entwürfe und Planungen und machte mich 1965 selbstständig. Parallel dazu studierte ich erfolgreich an der Staatlichen Ingenieurakademie für Bauwesen. So machte der zweite Bildungsweg aus dem Maurergesellen einen Bauingenieur. Aufstieg durch Bildung war keine leere Phrase und funktionierte bei mir so wie bei vielen anderen.

Hinzu traten Zufall und Glück. Westberlin galt nach dem Mauerbau keineswegs als Ort mit glänzenden Aussichten. Vielen erschien die Eingemeindung der Teilstadt in den Osten über kurz oder lang unausweichlich. Häuser und Grundstücke wurden im Westen Berlins von ihren Eigentümern zu Tiefstpreisen verscherbelt und so vor dem erwarteten Zugriff der DDR-Volksarmee in Bargeld verwandelt. Das hielt zwei, drei Jahre an, ehe sich die Lage stabilisierte und eine spürbare Gegenbewegung einsetzte. 1965 wurde mit dem Europa-Center in der westlichen City ein Ausrufezeichen gesetzt. Das Hochhaus war als kräftiger Lebensbeweis  sowohl Richtung Ost-Berlin als auch gegenüber der eigenen Bevölkerung gedacht. Der soziale Wohnungsbau kam mit unzähligen Großprojekten in Gang, Westberlin erlebte in den nächsten drei Jahrzehnten einen anhaltenden Bauboom.

Als Geselle gebaut, es steht noch heute.

Als Geselle gebaut, es steht noch heute.

Zehn Jahre nach dem Berufsstart als Ingenieur gründete ich mit einem Partner eine Baufirma, die von der Planung und Finanzierung bis zur Ausführung alle Leistungen aus einer Hand anbot. Ein Problem, Aufträge zu bekommen, hatte ich nicht. Selbst die bekannt schlechte Zahlungsmoral des Gewerbes brachte mich nie in Nöte. Es blieb bei aller Arbeit sogar die Zeit, mich zum Bausachverständigen fortzubilden. Damals gab es nur eine Handvoll Gutachter für Bau- und Grundstückssachen, eine kleine Riege ehren- und liebenswerter Honoratioren fortgeschrittenen Alters. Die meisten waren Professoren oder Architekten im Herbst ihrer beruflichen Laufbahn. Einige von ihnen drängten mich, trotz oder gerade wegen meiner vergleichsweise jungen Jahre, dem kleinen Club beizutreten.

1980 legte ich die Prüfung zur öffentlichen Bestellung bei der Industrie- und Handelskammer Berlin ab und verfasste fortan hier und da Gutachten. Es war eine willkommene Abwechslung vom Tagesgeschäft, mehr nicht. Wenn man so will, rückte ich über die Jahre biologisch vor. Die Alten schieden aus, die Jüngeren übernahmen. Wahrscheinlich hätte ich diese Aufgabe weiterhin neben anderen versehen, wenn im November 1989 nicht die Mauer gefallen wäre. Damit änderte sich für mich vieles. Ich arbeitete bald ausschließlich als Gutachter, mit ständig größerem Wirkungskreis. Es trug mich zusätzlich nach London, Paris, Mailand und Brüssel sowie über den Atlantik nach Chicago, Boston und Washington. Doch vor allem kehrte ich in das Land zurück, das ich einst verlassen hatte. Ich bereiste die DDR oder das, was von ihr blieb, und besichtigte und bewertete, was sie an Gebäuden und Grundstücken hinterließ.